Teil 1 – Martin Kersting: Personalpsychologie in der Praxis

In unserer Interviewreihe mit Expert:innen aus dem Personalbereich stellen wir regelmäßig interessante Menschen vor. Wir sprechen heute mit Martin Kersting. Los geht‘s…

Hallo Herr Kersting. Sie setzen sich als Professor für psychologische Diagnostik der Justus-Liebig-Universität Gießen stark für den Transfer zwischen der Wissenschaft und Praxis ein und haben auch selbst jahrelang im HRM gearbeitet. Was fasziniert Sie an der Personalpsychologie?

„Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt, als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat.“ Mit diesem Satz hat Wilhelm von Humboldt die hohe Bedeutung der Arbeit für den Menschen zum Ausdruck gebracht. Arbeit kann unser Gemüt heiter stimmen, aber auch unser Unglück sein. Ein hoher Anteil unseres bewusst verbrachten Lebens verbringen wir mit Arbeit. Wir gestalten die Arbeit und die Arbeit wirkt auf uns. Diese Interaktion zwischen Mensch und Arbeit ist wesentlich für die Struktur, den Inhalt und die Entwicklung unseres Lebens, für die Identitätsbildung und Realitätsbindung, für unsere Sozialkontakte. Die Interaktion zwischen Mensch und Arbeit ist mitverantwortlich dafür, ob einzelne Menschen und die Menschheit Ideen verwirklichen können.

Ich liebe es, mit Hilfe der Personalpsychologie dazu beizutragen, dass Menschen und Organisationen im Einklang miteinander produktiv und zufrieden werden.

Das, was wir in diesem Bereich wissen und das, was wir noch nicht wissen, übt eine große Faszination auf mich aus.

Warum interessieren Sie sich besonders für psychologische Diagnostik im beruflichen Kontext?

Mit der Diagnostik gewinnt man auf systematische Art und Weise Erkenntnisse, die dazu dienen, Fragen zu beantworten, fundierte Prognosen und begründete Entscheidungen zu treffen. Das Streben nach Erkenntnis ist zutiefst menschlich. Aber natürlich geht es mir nicht nur um die Diagnostik, sondern auch um die aus der Diagnostik abgeleiteten Beratungen und Handlungen. Die Diagnostik ist die Alternative zum Blindflug, sie gibt unserem Handeln Orientierung.

Was wäre für Sie ein idealer Personalauswahlprozess? Welche eignungsdiagnostischen Instrumente würden Sie einsetzen?

Ein Ideal ist etwas „Mustergültiges“, eine Norm, der man nicht genügen kann. Eine der Besonderheiten der Eignungsdiagnostik ist, dass ein mustergültiges Vorgehen nicht etwa zu einer immer gleichen Gestaltung der Personalauswahl führt, sondern zu einem Vorgehen, das von Fall zu Fall verschieden ist. Ein mustergültiger Personalauswahlprozess geht sehr individuell auf den jeweiligen „Fall“ ein. Die Grundprinzipien sind immer gleich, aber das, was im Einzelfall dabei herauskommt, ist sehr unterschiedlich und pragmatisch. Wir haben die Grundprinzipien in einer DIN Norm zusammengefasst, der DIN 33430, die „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“ formuliert. Grundprinzipien sind u.a. die Anforderungs- und Evidenzorientierung, das regelbasierte und kontrollierte Vorgehen.

Zunächst muss man den Bedarf und die Rahmenbedingungen ermitteln und dann für diese spezifische Ausgangsposition das Verfahren entwickeln. Wenn man eine Aushilfe für die Sommerferien sucht, sollte man keinen aufwändigen Auswahlprozess gestalten. Wenn die Personalauswahl für Organisation und Person wichtig ist, sollte man es ganzheitlich angehen.

Um nur einige Leitfragen beispielhaft zu benennen: Wie sieht das Anforderungsprofil aus? Habe ich überhaupt genügend gute Bewerber:innen? Was ist mit internen Bewerber:innen? Mit welchen Verfahren kann ich die identifizierten Eignungsmerkmale treffsicher, effizient und sozial akzeptiert erfassen? In welcher Reihenfolge führe ich die Verfahren durch, was kann ich remote erledigen, was benötigt Präsenz? Welche Qualifikationen benötigen die in den Auswahlprozess involvierten Personen? Was passiert nach dem Auswahlverfahren, wie gehe ich mit den abgelehnten Bewerber:innen um, wie sieht – in Abhängigkeit von den diagnostischen Erkenntnissen – das Onboarding und die Personalentwicklung für die akzeptierten Bewerber:innen aus? Wie prüfe ich im Nachhinein, was gut gelaufen ist, was ich beim nächsten Mal noch besser machen kann?

Halten Sie Leistungstests im Bewerbungsprozess für ein wirksames Mittel?

“Leistungstests sind ein wichtiges Instrument im Tool-Koffer der Eignungsdiagnostik.”

Sie kommen in der Regel dann zur Anwendung, wenn laut Anforderungsprofil Eignungsmerkmale überprüft werden müssen, die sich mit Leistungstest erfassen lassen. Da die kognitive Kompetenz (Intelligenz, Lernfähigkeit…) häufig für den Berufserfolg relevant ist, wird dies oft der Fall sein. Die aus gut gemachten Leistungstests abgeleiteten Eignungsaussagen erlauben nachweislich eine treffsichere Vorhersage von Trainings- und Berufsleistungen. Leistungstests haben u.a. den Vorteil, dass die Messung weder von der Selbsttäuschung und / oder Selbstdarstellung (impression management) der Kandidat:innen, noch von bewussten oder unbewussten kognitive Verzerrungen (unconscious bias) der Entscheider:innen verzerrt wird. Damit haben die Verfahren eine positive Sonderstellung.

Vorbehalte gegenüber Leistungstests gibt es hinsichtlich der Akzeptanz bei den Kandidat:innen insbesondere angesichts des Personalmangels. Vielen dieser Bedenken kann man durch eine bewusste Gestaltung der Verfahren und des Prozesses (Aufklärung, Transparenz) begegnen. Dennoch gefährdet gerade die Objektivität der Leistungstests grundsätzlich die Akzeptanz:

Bei einem Leistungstest kann herauskommen, dass die Leistungen unter einer gesetzten Norm zurückbleiben. Das kann das Selbstbild gefährden, entsprechend umsichtig muss man damit umgehen und von Anfang an Maßnahmen einplanen, um den Selbstwert zu schützen.

Wie entwickelt sich HR Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren weiter? Welchen Stellenwert werden KI und andere moderne Technologien in der Personalarbeit einnehmen?

Eine Erörterung der ungeheuren Chancen und Risiken von KI und Big Data in allen Phasen der Wertschöpfungskette des HR-Managements sprengt definitiv den Rahmen unseres Interviews. Sehr verkürzt ausgedrückt geht es vor allem um die Themen Individualisierung, sowie um ein Vorgehen auf der Basis von Daten in einer neuen Dimension der Quantität und Qualität.

Als erstes Beispiel möchte ich die datenbasierte Gestaltung von individualisierten Recruiting-Kampagnen aufführen. Stellenanzeigen können mit Hilfe von KI in verschiedener Hinsicht (z.B. allgemeine Attraktivität und / oder Geschlechtergerechtigkeit) „optimiert“ werden. Die selbe Stelle kann für unterschiedliche Personen individuell anders („passend“) dargestellt und (auch über unterschiedliche Kommunikationskanäle) kommuniziert werden. In diesem Bereich gibt es aktuell am meisten Aktivitäten: In einer Studie des Bundesverbands für Personalmanager BPM und des Ethikbeirats HR-Tech dessen Mitglied ich bin, haben wir festgestellt, dass technisch innovative Anwendungen bei der Suche nach potenziellen Bewerbenden und deren Ansprache sowie im Bereich der Vorauswahl aktuell am häufigsten zum Einsatz kommen.

Ein anderes Beispiel sind neuartige Daten, die für die Eignungsdiagnostik sowie für die Beurteilung und Förderung der Mitarbeiter(innen)leistung und für die Personalentwicklung genutzt werden können. Wie die Einführung des Mikroskops in die Naturwissenschaften ermöglichen uns Big Data und künstliche Intelligenz grundsätzlich neue Einsichten, wir öffnen sozusagen ein digitales Fenster in die Persönlichkeit. Ein konkretes Beispiel sind Analysen des digitalen Fußabdrucks, den eine Person hinterlässt. Dieser ist weniger anfällig für Beschönigungen als Selbstberichte. Und die Interpretations- und Entscheidungsvorschläge, die eine Maschine unterbreitet, können, wenn es gut gemacht wird, weniger Verzerrungen unterliegen als die menschlichen Interpretationen.

Hier kommen wir aber auch schon zu den Herausforderungen: Diese sind sowohl fachlicher als auch rechtlicher und ethischer Natur. Starten wir mit den fachlichen Aspekten. Die ersten Lichtmikroskope waren kaum brauchbar, weil sie fehlerhafte Linsen nutzten. Viele aktuelle Programme die mit KI arbeiten sind unbefriedigend. Dies kann beispielsweise daran liegen, dass die Algorithmen anhand von Trainingsdatensätzen entwickelt wurden, die weder aktuell noch repräsentativ waren. Aktuell werden, so mein Eindruck, die Produkte von Personen entwickelt, die ihre Expertise im Thema „Data Science“ haben, aber nicht im Bereich Personal und Personalpsychologie. Dass aus den aktuellen Trends wirkliche Fortschritte werden setzt voraus, dass die Disziplinen zusammenarbeiten.

Außerdem geht es nicht nur darum, was wir können, sondern auch darum, was wir dürfen und was wir wollen, es geht um Recht und Ethik. Zu nennen sind hier unter anderem der Datenschutz, die Selbstbestimmung und die Transparenz von Entscheidungen. Es ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern vor allem eine Frage der Ethik, eine Frage der Werte, für die wir stehen. Im Ethikbeirat HR Tech haben wir daher zehn Regeln für eine verantwortungsvolle digitale Transformation des Personalwesens formuliert, die man im Netz nachlesen kann. Wir fordern beispielsweise, dass bei wichtigen Personalentscheidungen die Letztentscheidungsbefugnis einer natürlichen Person obliegt. Insgesamt wird das Thema künstliche Intelligenz meines Erachtens häufig sehr schwarz / weiß gesehen, es gibt viele Utopien und Dystopien. Wir sollten aber nicht nur über die Zukunft reden, sondern sie aktiv gestalten und zwar so, wie wir uns die Zukunft wünschen.

Fortsetzung folgt…

Das “Personalmagazin” zeichnete ihn viermal in Folge als einen der “führenden Köpfe des Personalwesens” aus, zweimal schaffte er es bereits unter die ersten drei Plätze bei der Vergabe des Titels “Professor des Jahres” (Kategorie Medizin / Naturwissenschaften).

Prof. Dr. Martin Kersting ist Diplom Psychologe; in seinem Fachgebiet, der Personalpsychologie, verfügt er über langjährige praktische und fachliche Expertise.

Durch seine Tätigkeit als Berater für Eignungsdiagnostik und Personalentwicklung, Vorsitzender des Diagnostik- und Testkuratoriums und seinen Mitgliedschaften in diversen Organisationen, wie unter anderem dem Forum Assessment e.V. und dem Ethikbeirat HR Tech, zählt er zu den absoluten Koryphäen seines Gebietes.

Zudem ist er außerdem auch Mitglied der DIN-Kommission und Mitautor der DIN 33430, einer praxisorientierten Prozessnorm, die Qualitätskriterien für die Auswahl, Planung, Durchführung sowie Auswertung von berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen formuliert.

Aktuell ist er als Universitätsprofessor für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig.

Als Mitautor verschiedener Tests zu kognitiven und sozialen Kompetenzen sowie zahlreicher Publikationen und Vorträge zu wirtschafts- und personalpsychologischen Themen ist er durchaus eine Instanz der HR-Szene.

Mehr zu den Forschungsinteressen, Publikationen und Arbeitsschwerpunkten von Martin Kersting finden Sie unter www.kersting-internet.de.

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